Haben Sie sich schon einmal überlegt auszuwandern? Die Abendsendungen sind voll davon! Beliebte Ziele sind dabei häufig die südlichen Länder, da man dort seinen Feierabend am Strand mit einem Cocktail in der Hand verbringen kann. Ganz so einfach ist es jedoch nicht, liebe Senior Professionals. Wir haben uns einen Experten zu diesem Thema ins Boot geholt. Spitzen Sie die Ohren und hören Sie zu, was Peter Postinett, Leiter der Organisationsentwicklung bei Ramafrut S.L., zum Thema leben und arbeiten in Spanien zu sagen hat.
Sonne, Strand und Fiesta – das ist es, was man sich als Mitteleuropäer oft unter Spanien vorstellt. Dies mag sicherlich für die meisten Urlauber zutreffen. Im Berufsalltag ist die Situation jedoch eine ganz andere – zum Erstaunen der meisten Auswanderer.
Was man in einer Managementposition in südlichen Ländern vor allen Dingen braucht ist Geduld und die richtige Mischung von Zurückhaltung und Durchsetzungsvermögen. Die allermeisten mittelständischen Unternehmen in Spanien (PYMES) sind inhabergeführt.
Diese Inhaber sind die Alleinherrscher über ihr Imperium und dulden in der Regel nur wenig und mit Vorsicht vorgetragene Kritik. Manchmal ist diese Situation gerade für Mittel- und Nordeuropäer etwas befremdlich, weil beispielsweise nicht immer die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden oder man auch strategisch gröbere Fehler teils sehenden Auges geschehen lässt.
Ich habe beispielsweise Unternehmen erlebt, die trotz eines Einkaufsvolumens im zweistelligen Millionenbereich keine Einkaufsabteilung haben. Jeder kauft das was er braucht im “Geschäft um die Ecke” (oft sind dies dann die Geschäfte von Freunden oder Verwandten und nicht selten erhält der Einkäufer eine Provision). Trotz erheblichen Verbesserungspotentials ist eine Änderung sehr schwierig, weil die Unternehmer oft nicht anderen Familienmitgliedern oder Freunden vor den Kopf stoßen wollen.
Ein funktionierendes Talentmanagement existiert in den seltensten Fällen. Es werden bevorzugt Freunde, Bekannte und Familienmitglieder eingestellt. Andere Mitarbeiter haben es ungleich schwerer sich durchzusetzen und innerhalb der Organisation aufzusteigen. Oft ist eine Beurteilung der Arbeitsleistung sympathiegetragen und basiert nicht auf tatsächlichen Leistungen.
Eine Führung anhand von Zielvorgaben gibt es nur sehr rudimentär. Man versucht kurzfristig zu reagieren und eventuelle Vorgaben laufend anzupassen. Dies führt zu einem hohen Anteil an Improvisation. Zudem erschwert diese Situation eine Fehleranalyse beziehungsweise Fehlervermeidung.
Was die letzten 30 Jahre funktioniert hat, funktioniert auch weiterhin! Diese Meinung ist weit verbreitet. Neuerungen werden sehr kritisch (teils ablehnend) bewertet. Die Inhaber stecken tief im Tagesgeschäft statt sich der langfristigen Strategie zu widmen und verlaufen sich oft im Mikromanagement. Sie wollen alles kontrollieren und verlieren so den Überblick. Ein Umdenken findet oft erst statt, wenn es den Unternehmen schlecht geht und ein Zwang entsteht. Entweder man verändert sich und das Unternehmen, oder das Schiff geht mit Mann und Maus unter (wie in der Wirtschaftskrise oft geschehen).
Aber wie kann man sich hierauf einstellen, wenn man in einen solchen Umfeld arbeiten möchte oder arbeiten muss?
Man benötigt ein paar Grundvoraussetzungen, um sich in diesen Organisationen behaupten zu können:
Sprache
Dazu gehört sicherlich, die Landessprache weitgehend fließend zu beherrschen. Während man in Mittel- und Nordeuropa durchaus mit Englisch durchkommt, ist dies in den südlichen Ländern fast unmöglich. Wenige Kollegen (und Unternehmer) sprechen Englisch und eine Kommunikation ist so schwierig bis nicht machbar. Es ist auch hilfreich, sich mit der jeweiligen Landeskultur vertraut zu machen. So kann man mitreden und verhindert allzu oft in Fettnäpfchen zu treten.
Achtung: Wie in Deutschland gibt es auch in anderen Ländern regional ganz verschiedene Bräuche und Ansichten. DEN Spanier gibt es genauso wenig wie DEN Deutschen.
Frustrationstoleranz
Darüber hinaus sollte man die nötige hohe Frustrationstoleranz mitbringen. Veränderungen sind möglich, aber nicht immer innerhalb eines mitteleuropäischen Zeitplans. Es hilft oft, sich zuerst kleine Pilotprojekte vorzunehmen, anhand derer man zeigen kann, dass das eigene Konzept funktioniert.
So wird Vertrauen generiert, durch den Erfolg erhöht sich die Motivation und man kann das erfolgreiche Pilotprojekt dann auf einen großen Maßstab übertragen. Manchmal geht leider auch gar nichts. Dann ist es besser nicht die Flinte ins Korn zu werfen, sondern sich zumindest vorerst einem anderen Projekt zu widmen.
Teambildung
Man sollte sich ein eigenes Team aufbauen. Einheimische Talente, Meinungsmultiplikatoren innerhalb der Organisation und von den Eigentürmern anerkannte “Experten” sollten von Anfang eingebunden werden. Dies erhöht die Akzeptanz der eigenen Projekte erheblich und man verschafft sich Mitstreiter.
Nicht gegen Windmühlen kämpfen
Manchmal ist es zielführender beide Augen zuzumachen und diverse Missstände nicht zu beachten. Es bringt nichts, sich in Schlachten aufzureiben, die nicht gewonnen werden können (auch wenn der eigene Anspruch ein anderer ist).
Anwesenheit und zwar immer
In Südeuropa zählt physische Anwesenheit. Gehen Sie deshalb nicht davon aus, am Freitag zeitig an den Strand gehen zu können. 50 bis 60-Stunden-Wochen sind normal. Abwesenheit wird oft als Desinteresse interpretiert. Stellen Sie sich auf lange Arbeitstage ein. Die lange Arbeitszeit ist dabei kein Garant für Produktivität, trotzdem sollte man sich mit Vorschlägen zur Verkürzung der Arbeitszeit zurückhalten. Das kommt in den meisten Fällen nicht gut an.
Veränderungen
Viele erfolgreiche kleine Veränderungen bewirken nach und nach ein Umdenken und führen so langsam aber ziemlich sicher zu großen Veränderungen. Oft sind die nachfolgenden Generationen in der Firmenhierarchie gut ausgebildet und wesentlich offener. Sofern vorhanden sollten sie unbedingt in Veränderungsprozesse eingebunden werden.
Wenn man es schafft sich zu behaupten und sich nicht entmutigen zu lassen, dann kann man auch in diesen Organisationen durchaus glücklich werden und wertvolle Erfahrungen gewinnen, die auch im Lebenslauf gut aussehen. Trotz einer Anzahl von Differenzen im Vergleich mit deutschen Firmen sind viele spanische Unternehmen gut aufgestellt und Spezialisten in ihrem Bereich. Mit etwas Offenheit und gutem Willen kann man viel Lernen – über die Firma und über sich selbst.
Eigenschaften wie Frustrationstoleranz, Empathie / Verständnis für andere Kulturen und Ansichten, Durchsetzungsfähigkeit und Flexibilität sind auch in Deutschland sehr gefragte Eigenschaften. Und am Wochenende scheint fast immer die Sonne und entschädigt so für die ein oder andere schwierige Zeit.
Über den Gastautor Peter Postinett:
46 Jahre alt, verheiratet, 2 Kinder, Leiter Organisationsentwicklung und Change Agent in einem mittelständischen, spanischen Familienunternehmen im Raum Valencia (Ramafru S.L., Valencia, Spanien). Dozent an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Valencia und Autor mehrerer Bücher und Fachartikel. Leitung von multikulturellen Teams im internationalen Umfeld, Erfahrung in der internationalen Einführung und dem Roll-Out von SAP R/3 und bei der Konzeption und Umsetzung von unternehmensweiten Organisationsmodellen. Erfahrung mit internationalen Restrukturierungsprojekten, der Analyse und der Überarbeitung von Geschäftsprozessen. Seine Themen sind Organisation und Optimierung von Prozessen (Kontinuierliche Verbesserung, Lean Manufacturing, Lean Office), Synergien und internationale Vernetzung von Teams / Abteilungen, Lokale Umsetzung zentralseitig vorgegebener Strategien (Vertrieb, Marketing, Unternehmensphilosophie, Organisation) im europäischen Ausland, Mitarbeitermotivation und Change Management.